Zehnte Szene

[187] Die Vorigen. Von Eurytimos gestützt, erscheint der Blinde. Kopf, linker Arm und Brust mit Binden umwickelt, durch die blutige Streifen hindurchschimmern. Sein Gesicht ist wie das eines Toten. Er hält sich nur mit höchster Willensanstrengung aufrecht.


DIOKLES ihm entgegen.

Du kamst zu rechter Zeit. Sie wähnten dich

Gestorben und verwürfelten dein Erbe.

DER BLINDE.

Noch lebend – schon vergessen! Ich verstehe

Dich, Dämon ... Ihr Abtrünnigen, muß ich

Euch bannen mit des Auges blut'gem Griffe,

Auf daß ihr – mir nicht – nein, euch selbst gehorchet!

Noch bin ich da! Noch wächst mein Werk, und zwischen

Den Fäusten halt' ich euch wie – euren Herrn.

Du Mächtigster der Männer hast zur Stunde[187]

Bezahlter Wächter keinen, mich zu fangen,

Und keinen Mago, der mich heimlich würge!

Mein bist du – mein ist das Gericht! –

ARRATOS.

Wer – setzte –

Dich mir zum Richter? Wer –?

DER BLINDE.

Du selbst Doch ehe

Der Fragen letzte, die zehn Jahre schon

Die Gräber der Verratenen umirrt,

In Zorn aufschreiend, ihm das Herz bloßlegt,

Verkünd' ich allen, die im Dunkel noch

Hierhergeeilt, daß seit dem Dämmergraun

Karthagos hundertbord'ge Flotte rings

Vorm Hafen steht.


Rufe des Entsetzens.


Seid unbesorgt! Ihr selbst

Mit mir vollführtet, was die Not erzwang.

Die frevlerisch gelösten Ketten sind

Gestrafft – die tückisch vorgesandten Schiffe

Vernichtet – alte Söldner kampfbereit.

Und was an Schaden dieser Mann euch antat –

Was er – auch – mir –


Er taumelt, von einer Schwäche ergriffen.


RUFE.

O seht! Er wankt![188]

DER BLINDE von Eurytimos und Diokles gestützt.

Vergebt!

Noch finstrer – wird die Nacht – in mir. Noch tiefer

Die – –

MYRRHA vorstürzend.

Stirb uns nicht, o Fremdling!

DER BLINDE sich aufraffend, mit seligem Lächeln.

Welche Stimme

War das? – Du, Mädchen – weilest in der Halle

Der Schrecken? – Deine Mutter ist mit dir?

PHILARETE.

Sie ist's.

DER BLINDE zuckt auf.

PHILARETE.

Und weil sie weiß, daß gütereich

Das Herz dir schlägt –

DER BLINDE mit innerlichem Lachen.

Schon schwächer wird der Schlag!

PHILARETE.

– so flehet sie, des Toten eingedenk:

Laß Schonung walten, wie er mich geschont.[189]

DER BLINDE mit schriller Stimme.

Hinweg ihr alle! Wer ein Henkeramt

Versieht, der muß allein stehn ... Arratos,

Mein – Freund!

ARRATOS in Angst halb besinnungslos.

Wann war ich wohl dein Freund?

DER BLINDE.

Du warst's!

Und weil ich Ehr' und Einsicht dir vertraute –

ARRATOS.

Du –? Mir –?

DER BLINDE.

– so muß ich –

ARRATOS.

Keine Frage mehr!

Wer du auch immer seist, ich hab' genug

Von deinen Fragen! ... Guten Willen hab' ich

Bewiesen all die Jahre – doch was half's!

Entsühnen hab' ich wollen – doch was half's?

Faß meine Hand, Weib! So! – –


Während er mit der Linken Philaretens Hand umklammert, führt er mit der Rechten rasch den Ring zum Munde.


Wem – du – gehörst –

Der wird – geadelt – sein!


Er taumelt im Todeskampfe die Stufen hinab und bleibt reglos hinter dem Throne liegen. Philarete wirft sich mit einem Aufschrei über ihn. Dumpfes Murmeln des Schreckens.
[190]

DER BLINDE sich nach Eurytimos umwendend.

Was ist's?

EURYTIMOS.

Er gab

Sich selbst den Tod, so scheint es.

DER BLINDE.

Sein Geheimnis

Werf' ich ihm nach! ... Jetzt hört! Auch meine Zeit

Ist karg bemessen ... Diokles, wo bist du?

DIOKLES.

Bei dir! Wo sonst?

DER BLINDE.

Da du als deines Vaters

Echtblüt'gen Sprossen dich erwiesen hast,

So leg' ich, seinem Auftrag untertan,

Des Feldherrn Amt in deine Hände! Ferner:

Nimm dieses Hauses altererbte Schätze

– Wo sie geborgen, frage deine Mutter –

Und waffne jung und alt. Und was in Zweifel,

In Wollust oder Armut feig' erlosch,

Das laß zu neuer Flamme himmelauf

Entbrennen! Arm ist keiner, der dem Lande

Des Lebens einen Tod zu schenken hat –

Auch nicht der Bettler, der jetzt von euch geht.

DIOKLES.

Du Herrlicher, dem alles untertan,

Befiehl dem Tode – und er weicht von dir![191]

Doch ist's dein Wunsch, zu scheiden, dann entsiegle

Das Rätsel, das unlösbar scheint, und sprich:

Wer bist du, der als Heros uns erlöste?

DER BLINDE.

Wohlan denn! Führet mich zu dem Altar,

Der blumenübervoll des Gastes harret,

Und zündet fromm das reinigende Feuer,

Das Leid und Glück, das Tod und Sühne frißt.

Dann will ich reden, will – – – Was ist's? Wer steigt

Dort aus den ...? Was begehrst du, Dämon? ... So

Zornblickend mahnst du mich? ... Betrogen hab' ich

Dich längst! Denn war ich nicht der Herold jenes

In Nacht Verschollenen, des Name jetzt – – –?

Du lächelst? ... Oder kämpfte gar ein Schatten

Für einen Schatten?


Nach Philarete hinlauschend.


Weinen hör' ich dort!

Wer weint, da alles jubeln soll?

MYRRHA.

Die Mutter,

Die über ihrem Toten klagt, o Fremdling!

DER BLINDE.

Ja so ... Ach so ... Das war dein Lächeln, Dämon!

So lohnst du mir mein Werk! Und so wird er

Auch euch einst lohnen! So euch Allen! ... Sei's drum!


Tastend.


Wo sind die Stufen? Ich will heim.

MYRRHA.

Laß mich

Dich führen![192]

DER BLINDE.

Ja – und leg mich nieder! So! ...


Er legt sich, von Myrrha gestützt, auf den Stufen des Altars nieder.


Und bettest gar den Kopf in deinem Schoße?

Ah! Das tut gut ... Das tut sehr – – – Diokles!

Der Feind ist ... und – sag – deiner – Mutter – –

DIOKLES.

Mutter,

Der Fremde ruft nach dir!

DER BLINDE.

Nein, nein! Mag sie – – –

Ah! Das – tut – gut.


Er streckt sich im Sterben.


DIOKLES.

Wer bist du? Sprich! Wer bist du?

MYRRHA.

Von allen auf der Welt kann dies nur einer

Gewesen sein.

DIOKLES.

Sag wer? Wer?

PHILARETE die herzugetreten ist, in aufdämmernder Erkenntnis die Arme hochhebend.

Wer?

MYRRHA umklammert aufschluchzend den Kopf des Toten.

Nur einer!


Der Vorhang fällt.


Quelle:
Hermann Sudermann: Der Bettler von Syrakus. Stuttgart und Berlin 2-51911.
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