Das traurige Marlenchen

[111] Ausgeruht und purzelvergnügt flitzte Kasperle am nächsten Morgen in den Park, der das Schloß umgab. Der Haushofmeister hatte ihm ein gutes Frühstück gegeben, da war es satt, und der Herzog hatte es nicht rufen lassen, das gefiel ihm gut. Was der Herzog für bitterböse Gedanken hatte, ahnte es nicht.

Der Herzog wieder dachte, das Kasperle sei eingesperrt, also mochte es eingesperrt bleiben. Doch der Haushofmeister war ein milder alter Mann und nicht sehr für das Einsperren. Der hatte nur gefragt: »Kasperle, läufst du auch nicht fort?« Und da hatte Kasperle ihn traurig angesehen und von seinem Versprechen erzählt, und der Haushofmeister merkte, das brach Kasperle nicht. Also durfte der kleine Kerl im Garten herumspazieren.

Der war schön und groß; erst kamen Blumenbeete und Rasenflächen, dann ein kleines Wäldchen, durch das ein Bächlein rann. Vergißmeinnicht und Butterblumen blühten an seinem Rande und glänzende Kiesel lagen auf seinem Grunde. Flinke Forellen schwammen manchmal rasch vorbei und schimmernde Libellen tanzten über dem Wasser hin.

Das Bächlein gefiel Kasperle gut. Es hörte es rauschen, lief dem Tone nach und sah dann das silberklare Wasser. Da dachte Kasperle gerade an Hineinpatschen und Darinspielen, als es ein kleines Mädchen am Ufer sitzen sah.[111] Es war ein feines, schönes Kind, wie das Schneewittchen im Märchen, nur die Wänglein waren nicht rot wie Blut, sondern auch weiß wie frischgefallener Schnee.

»Hollahe!« schrie Kasperle vergnügt. Es dachte: Das ist eine feine kleine Spielgenossin.

Das Kind fuhr erschrocken zusammen, tat einen Seufzer und sank blaß und still ins Gras.

Kasperle war arg erschrocken. Es sah wirklich aus, als ob die Kleine tot wäre. Ganz sachte ging Kasperle näher und betrachtete das zarte Gesichtchen. Da öffnete das Kind die großen, dunklen Augen und sah es traurig an. Dem Kasperle tat das Herz weh, so traurig war der Blick. Es blieb ganz still stehen, ließ die Nase hängen und wagte kaum, sich zu rühren.[112]

Ein Weilchen war es ganz still, bis auf einmal eine leise, traurige Stimme fragte: »Wer bist du denn?«

Kasperle sah die Kleine scheu an und antwortete: »Kasperle. Aber du, bist du eine Prinzessin?«

»Nein«, antwortete die Kleine, »ich bin nur das traurige Marlenchen.«

»Warum bist du denn traurig?« Kasperle schnitt die fürchterlichsten Gesichter vor lauter Mitleid. Sonst lachten alle Kinder darüber, das traurige Marlenchen aber beugte sich über den Bach, und seine Tränen tropften in das Wasser. »Ich muß immer weinen«, klagte es.

»Warum mußte denn das?« Kasperle weinte ja auch oft und recht tüchtig, es konnte aber nicht begreifen, daß jemand immerzu weinen muß.

»Um meinen Vater weine ich«, flüsterte das traurige Marlenchen.

Ob der wohl tot war? Kasperle wagte nicht zu fragen, es setzte sich nur still neben die Kleine, und eine Weile war nur das Plätschern des Baches und das Rauschen der Bäume zu hören. Plötzlich aber rief ferne eine Stimme: »Kasperle, Kasperle!«

Das sprang auf. Der Haushofmeister hatte gesagt: »Wenn du gerufen wirst, komme sofort, sonst sperrt dich der Herzog wirklich ein.« Kasperle schrie nur noch: »Ich komme wieder«, und dann rannte es in solchen Bocksprüngen dem Hause zu, daß ihm das traurige Marlenchen ganz verwundert nachsah.

Im Schloß kam Veit schon Kasperle entgegen. »Schnell, schnell, du sollst zum Herzog kommen, aber schlage nicht wieder Purzelbäume!«

Der Herzog saß in einem schönen, großen Zimmer und[113] war übelgelaunt. Das war er beinahe alle Tage, vielleicht weil er es zu gut hatte im Leben. Er gähnte und sah Kasperle streng an: »Wo warst du?«

»Im Garten«, stammelte Kasperle, und es wollte gerade sagen: Ich habe das traurige Marlenchen gesehen, als ihm der Haushofmeister zuflüsterte: »Still!«

Klapp, machte Kasperle seinen Mund zu. Es stand da und schaute mit seinen glitzernden Äuglein den Herzog erstaunt an; nein, sah der brummig aus! Auf einmal fragte der Herzog: »Kannst du wirklich aussehen wie meine Base Gundolfine?«

Kasperle verzog flink sein Gesicht, ganz wunderlich war es, wie es das konnte, und plötzlich schaute es wirklich beinahe wie die Base Gundolfine drein.

Der Herzog lachte ein wenig und befahl: »Schneide noch mehr Gesichter!« Da schnitt Kasperle Gesicht um Gesicht und der Herzog dachte: Ein spaßiger Kerl ist's schon.

Er war nachher auch ganz gnädig und sagte, Kasperle solle eine Stube im Turm bekommen. Die hatte zwar auch vergitterte Fenster, war aber sonst freundlich. Und Kasperle durfte mittags und abends an des Herzogs Tafel essen.

Jemine, das gab aber eine Aufregung! Daheim im Waldhaus hatte selbst die schöne Frau Liebetraut, die doch dem Kasperle so vieles nachsah, über des kleinen Burschen schnelles Essen gescholten. Aber an des Herzogs Tafel war man so etwas nicht gewöhnt. Schluck, schluck, da war der Teller leer, und was für Portionen lud sich der Kleine jedesmal drauf.

Der Herzog pflegte siebenmal am Tag zu essen, und dazwischen lutschte er immer Schokolade. Da aß er dann[114] zu Mittag immer nur ganz wenig, und seine Hofleute aßen sich meist hinterher satt, weil sie am Tisch zu kurz kamen. Denn der Herzog ärgerte sich, wenn einer mehr aß als er selbst. Nur die Prinzessin Gundolfine pflegte tüchtig zu schmausen. Und nun aß das Kasperle wie ein kleiner Werwolf. Nach der Suppe reichte es seinen Teller hin und schrie: »Noch mal!«

»Genug«, rief da der Herzog ungehalten, »es gibt immer nur einmal.«

Hei, dachte Kasperle, wenn das so ist, muß ich mich dazuhalten! Und beim zweiten Gang lud es sich den Teller richtig voll; wie ein Berg türmte es alles auf, und der Diener, der herumreichte, hatte Mühe, sein Lachen zu verbergen. Nun konnte Kasperle essen!

Der Herzog sagte nichts, er sah nur ein paarmal streng hin, und der Kammerherr, neben dem Kasperle saß, schubste es und flüsterte leise: »Nimm nicht so viel auf einmal!«

Kasperle erschrak, und beim nächsten Gang nahm es bescheiden nur ein winziges Stückchen. Aber dann kam die süße Speise, und da war es um Kasperle geschehen. Den halben Pudding lud es sich auf den Teller, und der Herzog bekam ganz große, runde Augen vor Schreck. »Kasperle«, rief er, »das ist unbescheiden.«

Kasperle versank erschrocken mit seiner großen Nase in dem Puddingberg. Ein leises Lachen erklang ringsum, der Herzog aber rief streng: »Kasperle soll aufstehen, den Pudding darf es nicht essen!«

Das war bitter. Kasperle verzog sein Gesicht, es wollte heulen, aber sein Freund Veit hielt ihm einfach den Mund zu. Er hob es auf, führte es aus dem Saal, und draußen flüsterte er ihm zu: »Sei still, ich bringe dir deinen Pudding!«[115]

Ein anderer Diener, der nicht bei Tische aufwartete und der mürrisch und unfreundlich war, nahm Kasperle, führte es in den Turm, schloß brummend die Türe zu, und da saß Kasperle nun allein und gefangen. Es dachte wieder an das Waldhaus, an das traurige Marlenchen und den Pudding. Das war zuviel für es, und es brach in ein jämmerliches Geheule aus.

Es weinte lange, bis es draußen Schritte hörte. Es war der alte Haushofmeister, der selbst kam, ihm seinen Pudding brachte und es gutherzig tröstete. »Kasperle«, sagte er, als das schon wieder purzelvergnügt zu schmausen begann, »wenn du mir fest versprichst, keine Dummheiten zu machen und nur dann den Turm zu verlassen, wenn es gar niemand merken kann, will ich dir etwas verraten. Ich muß nämlich den Schlüssel dem Herzog geben; du sollst nur herausgelassen werden, wenn der Herzog von dir unterhalten sein will, sonst sollst du immer, immer im Turm stecken. Doch der Turm hat noch ein Türchen, von dem aus du die Treppe hinablaufen kannst. Der Turm ist nämlich noch von dem alten Schloß.«

»Wie im Waldschloß«, rief Kasperle vergnügt, und flink schlug es dem Bild eines würdigen Herrn, das an der Wand hing, auf den Magen, weil es dachte, das Türlein sei dahinter.

Aber der Herr blieb steif und feierlich hängen und der alte Haushofmeister lachte. »So leicht findest du das Türlein nicht«, sagte er, »und erst mußt du mir dein Wort geben, keine Dummheiten zu machen.«

Das gab ihm Kasperle. Freilich, der gute Haushofmeister wußte nicht, daß Kasperle für die harmlosesten Dinge ansah, was man sonst schon schwere, unnütze Streiche nennt.[116]

»Nun paß also auf!« Der Haushofmeister schloß den Schrank auf, verschwand darin und – kam auf einmal ganz vergnügt durch die Türe von draußen wieder in die kleine Stube hereinspaziert.

Das war doch merkwürdig! Hops, sprang Kasperle auch in den Schrank, der Haushofmeister schloß von außen zu, und da saß Kasperle im Schrank. Es klopfte, drückte, aber nirgends war ein Spalt. Es wurde ihm himmelangst und es schrie flehend: »Aufmachen! 'rauslassen!«

Der Haushofmeister schloß lachend die Türe wieder auf. »Siehst du, kleines Kasperle«, sagte er, »so rasch findest du hier die geheimen Wege nicht, um herumzugeistern. Aber nun paß einmal auf!« Und er drehte an einem Kleiderhaken, da schob sich die Wand auseinander und Kasperle stand unversehens draußen auf dem Treppengang.

Das war fein. Vergnügt witschte es wieder in das Zimmer, wieder in den Schrank hinein, war draußen, war drinnen, und als es dies dreimal gemacht hatte, sagte der Haushofmeister: »So, nun ist's genug, bleibe jetzt im Zimmer. Du kannst ein bißchen zum Fenster hinaussehen.«

»Ach, ich möchte hinaus!« bettelte Kasperle. »Ich möchte zum traurigen Marlenchen.« Da hielt ihm der Haushofmeister erschrocken den Mund zu. »Schweig«, sagte er, »davon dürfen der Herzog und der Oberhofmeister nichts hören, auch die Prinzessin Gundolfine nicht, sonst geht es uns schlecht!«

Kasperle riß Mund und Augen weit auf. Was war denn das für eine geheimnisvolle Geschichte mit dem traurigen Marlenchen? Doch ehe es fragen konnte, erzählte sie ihm der Haushofmeister selbst. Der setzte sich an das kleine vergitterte Fenster und begann: »Der Vater des traurigen[117] Marlenchens besitzt ein kleines Schloß; vom Bächlein aus, an dem Marlenchen immer sitzt, geht man bis dorthin etwa eine halbe Stunde. Da, schau, dort siehst du es in der Ferne liegen.« Er zeigte auf ein Schloß, das über den Bäumen heraussah. »Bei unserm Herzog war der Herr von Lindeneck, so heißt er und auch das Schlößchen, Hofjägermeister. Seine schöne junge Frau ist früh gestorben, und das Marlenchen ist sein einziges Kind. Einmal, die Prinzessin Gundolfine – Himmel, Kasperle, was ist denn los?«

Kasperle hatte bei der Erwähnung der Prinzessin gleich sein bitterböses Räubergesicht gemacht, und der Haushofmeister sah es ganz erschrocken an. Als ihm Kasperle aber sagte, dies geschehe nur, weil er von der Prinzessin gesprochen habe, lachte er und brummte: »Ja, die ist auch sehr boshaft! – Na also«, fuhr der Haushofmeister fort, »die Prinzessin Gundolfine war da, und der Herzog jagte in dem Walde, der an den Park stößt. Es war ein heißer Tag, und der Herzog kam mit dem Hofjägermeister und wusch sich einmal die Hände im Bach. Dabei zog er einen kostbaren Ring ab und legte ihn auf einen großen, flachen Stein unter einer riesengroßen, alten Ulme; dort wirst du heute das traurige Marlenchen getroffen haben.«

Kasperle nickte eifrig. »Auf dem Baum ganz oben sind ein paar Vogelnester«, sagte es.

»Soso!« Der Haushofmeister hörte kaum darauf, er erzählte weiter: »Wie sich der Herzog gewaschen hatte, kam ein Jägerbursche und meldete, ein großer Raubvogel sitze im Wald auf einem Baum, es scheine fast ein Adler zu sein. Der habe sich gewiß aus dem hohen Gebirge verflogen.

›Den muß ich schießen, aber allein‹, rief der Herzog.[118] Er vergaß seinen Ring und eilte davon, und der Hofjägermeister blieb am Bach sitzen. Der wußte, der Herzog hatte es nicht gern, wenn er mitging, weil er viel, viel besser schießen konnte. Und unser Herzog kann's nicht leiden, wenn einer etwas besser kann als er. Der Herr von Lindeneck blieb also am Bach sitzen, sah dem Hüpfen und Springen der Wellen zu, er sah die Libellen tanzen und dachte dabei nicht an des Herzogs Ring. Plötzlich hörte er in der Ferne lautes Rufen. Dann kam der Herzog zurück, und der Hofjägermeister stand auf und ging ihm entgegen.

›Es war wirklich ein verflogener Adler‹, rief der Herzog verärgert, ›aber mein Schuß ging fehl. Das ist nur davon gekommen, weil ich meinen Glücksring nicht angesteckt hatte!‹

Und rasch ging der Herzog auf den großen Stein zu, auf den er vorher den Ring niedergelegt hatte, doch der Ring war weg. ›Haben Sie meinen Ring aufgehoben?‹ fragte der Herzog den Hofjägermeister. ›Geben Sie mir ihn rasch!‹

Der Herr von Lindeneck erschrak. Er hatte gar nicht an den Ring gedacht, und er sagte daher etwas verwirrt: ›Er muß doch noch dort liegen!‹«

Der alte Haushofmeister seufzte. »Ich bin nicht dabeigewesen, aber Veit, der ein guter Bursche ist, war dabei, und der hat gesagt, Marlenchens Vater sei nur etwas erschrocken gewesen, keine Maus hätte denken können, er habe ein schlechtes Gewissen. Doch die Prinzessin Gundolfine, die den Herrn von Lindeneck nicht leiden konnte, und die dazukam, hat gleich gerufen: ›Sie sehen ja so verlegen aus! Ei, ei, Sie haben wohl den Ring in ihrer Tasche verwahrt?‹[119]

Das war sehr ungehörig, und der Herzog ärgerte sich zuerst auch über die peinlichen Worte der Prinzessin, aber als sich der Ring nicht fand, wurde er immer verstimmter, und die Prinzessin tuschelte ihm immer zu: ›Der Herr von Lindeneck soll doch mal seine Taschen umkehren!‹ Und schließlich hat er das von seinem Hofjägermeister verlangt.

Der ist totenbleich geworden, hat gleich alle seine Taschen aufgerissen, doch der Ring hat sich nicht gefunden. Die Prinzessin aber hat gerufen: ›Er wird schon wissen, wo er ihn versteckt hat‹!

Darüber ist der Hofjägermeister so aufgebracht worden, daß er beinahe die Prinzessin geschlagen hätte. Es hat einen großen Streit gegeben. Der Herzog war auch wütend auf die Prinzessin, und endlich ist der Herr von Lindeneck in den Schloßhof gegangen, hat sein Pferd bestiegen und ist davongeritten.

Dem Herzog war es nicht recht, und gewiß wäre auch alles wieder gut geworden, aber mit dem Ring war ein alter Aberglaube verbunden. Wer ihn trägt, bleibt immer gesund, wer ihn verliert, muß bald sterben. Wie nun alle eilig in das Schloß gegangen sind, hat sich der Herzog eine Beule an einem Türpfosten gestoßen, und da hat er gemeint, er müßte gleich sterben. Er hat gejammert: ›Mein Ring, mein Ring!‹ Und die Prinzessin hat wieder gerufen: ›Der ist gestohlen!‹

Oh, die Prinzessin Gundolfine ist schon eine bitterböse Frau!«

»Ja«, rief Kasperle dazwischen, nickte höchst lebhaft und schnitt gleich wieder sein Räubergesicht.

Diesmal erschrak der Haushofmeister nicht, er nickte[120] nur ebenfalls. »Ja, ja, du hast recht, das Gesicht verdient sie, kleiner Kasper. Sie hat eine schwere Sünde getan, hat die arme kleine Marlene angeschrien: ›Dein Vater ist ein Dieb, er hat gestohlen!‹

Das Kind ist totenbleich geworden, wir haben alle gedacht, es würde sterben. Die schöne Gräfin Rosemarie hat es in ihre Arme genommen und hat geweint und geklagt. Man hat nach dem Leibarzt gerufen, aber da ist das Marlenchen plötzlich aufgesprungen und davongelaufen, ehe es noch jemand halten konnte.

Die Gräfin Rosemarie ist ihm nachgerannt, aber erst am Schloß Lindeneck hat sie die Kleine eingeholt. Doch da hat der Herr von Lindeneck sein Kind an der Hand genommen, ist im Schloß verschwunden, und seitdem darf dort kein Fremder mehr die Schwelle übertreten.

Aus dem Marlenchen, das ein liebes, lustiges Dinglein war, ist das traurige Marlenchen geworden. Es sitzt oft am Bach an dem Platz, an dem der Ring verschwunden ist, und sucht und sucht; ich glaube, es ist kein Kiesel im Bach, den das Marlenchen nicht schon umgedreht hat. Das weiß weder der Herzog noch der Hofjägermeister. Der Herzog meidet seit dem Tage den Platz, er geht nicht mehr nach jener Seite des Parkes, und der Herr von Lindeneck wandert nur abends durch seinen Wald; er läßt sich von niemand mehr sehen. Der Graf von Singerlingen hat schon oft an dem Schloßtor gestanden und Einlaß begehrt; man hat ihn nicht eingelassen, und dabei war er des Hofjägermeisters bester Freund.«

Der Haushofmeister schwieg, und Kasperle sah ihn erwartungsvoll an. Endlich fragte es: »Wer hat denn den Ring?«[121]

»Ach lieber Himmel, du blitzdummes Kasperle!« rief der alte Herr. »Wenn das jemand wüßte, dann wäre doch alles gut! Nur weil sich der Ring nicht gefunden hat, denkt der arme Herr von Lindeneck, alle Leute halten ihn wirklich für einen Dieb, wie es die Prinzessin tut. Dabei denkt das kein Mensch; wer weiß, wohin der Ring geraten ist! Vielleicht hat ihn gar eine von den großen Forellen verschluckt. Ach, es ist ein Jammer! So ein lieber Herr war der Jägermeister, und das arme Marlenchen war ein rechtes Sonnenkind, und nun ist es immer blaß und traurig.«

Plötzlich fiel dem Haushofmeister etwas ein. »Kasperle«, sagte er, »du könntest versuchen, das Marlenchen aufzuheitern. Jetzt im Sommer, um die Zeit, wenn unser Herzog regiert, sitzt die Kleine tagaus, tagein am Bach; da könntest du ihr etwas vorkaspern, vielleicht lernt das traurige Marlenchen das Lachen wieder.«

»Ich geh' gleich hin«, schrie Kasperle und wutschte flink in den Schrank hinein, aber sein Beschützer hielt ihn noch am Hosenzipfel fest. »Jetzt nicht, Kasperle, jetzt ist das Marlenchen nicht da. Jetzt bleibe du nur hier, denn wenn der Herzog von seinem Mittagsschlaf erwacht, und du bist nicht da, dann gibt es großen Spektakel. Morgen früh darfst du an den Bach gehen. Sieh, hier habe ich eine Pfeife, wenn ich dreimal auf der pfeife, dann mußt du schnell zurückkommen. Du darfst aber niemand außer Veit etwas davon sagen, nur der und der Gärtner wissen es, daß das traurige Marlenchen dort alle Tage nach dem verlorenen Ringe sucht.«

»Ich helf' suchen«, sagte Kasperle. »Paß auf, ich finde den Ring!«

»Ach Unsinn, den findet niemand mehr!«[122]

»Doch, ich hab' mal geträumt, ich hätt'n Ring gefunden.«

»Wo denn? Wann denn?«

Da sperrte Kasperle den Mund weit auf und murmelte kleinlaut: »Ja, das weiß ich nicht mehr!«

»O Kasperle!« Der alte Haushofmeister streichelte das dumme, unnütze Kasperle und versprach ihm, nachher solle Kasperle auch Milch und Kuchen bekommen, wenn es brav wäre.

Das Bravsein gelobte Kasperle feierlich. Und es kletterte auch ganz still auf das Fensterbrett, als der Haushofmeister gegangen war, und schaute hinaus. Nicht weit vom Schloß lag eine mauerumgebene kleine Stadt, rechts kamen Wiesen und Wälder und auf einer Anhöhe lag Schloß Lindeneck.

Kasperle guckte sich beinahe die Augen aus dem Kopf, und da sah es in der Ferne noch ein Schloß liegen. Es war gut, daß just Veit in das Turmstübchen kam, denn sonst wäre Kasperle wohl vor Neugier noch aus dem Fenster gepurzelt. Veit sagte auch, das erste Schloß sei Lindeneck, das zweite dort in der Ferne aber Weidbronnen, dort wohne der Graf von Singerlingen oft.

So nah wohnte der! Kasperles Augen glitzerten vor Freude, und es sagte plötzlich: »Wenn er mich zum Teufel schickt, dann geh' ich dahin.«

»Wer soll dich denn zum Teufel schicken?«

»Na, der Herzog.«

Veit lachte. »So etwas sagt der nicht, dazu ist er viel zu vornehm. Aber horch, Kasperle, es wird einmal gepfiffen; das heißt, du sollst zum Herzog kommen. Nun sei aber brav und benimm dich gut!«

Kasperle versprach es, und dann ging es an Veits Hand[123] bis an des Herzogs Nachmittagswohnzimmer. Veit machte die Türe auf, Kasperle übersah die Schwelle und platsch, lag es, so kurz es war, im Zimmer, und der Herzog ließ vor Schreck seine Tasse fallen. Er schalt heftig, und Kasperle stand da wie ein begossenes Pudelchen. Veit aber dachte: Das nennt man nun sich gut benehmen! O mein armes, dummes Kasperle, wie wird es dir hier ergehen![124]

Quelle:
Herold Verlag, Stuttgart, 1983, S. 111-125.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung. Ein Lustspiel in drei Aufzügen

Der Teufel kommt auf die Erde weil die Hölle geputzt wird, er kauft junge Frauen, stiftet junge Männer zum Mord an und fällt auf eine mit Kondomen als Köder gefüllte Falle rein. Grabbes von ihm selbst als Gegenstück zu seinem nihilistischen Herzog von Gothland empfundenes Lustspiel widersetzt sich jeder konventionellen Schemeneinteilung. Es ist rüpelhafte Groteske, drastische Satire und komischer Scherz gleichermaßen.

58 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon