An Chronos

[195] Wie schnell, o Chronos, rollet dein Wagen,

Von stürmenden Winden getragen,

Durch dein weites Gebiet!

Es rasseln und donnern die Räder,

Durch den weichenden Aether,

Daß die Axe glüht.

Hoch stehst du mit herrschendem Blicke,

Das Sandglas in der Hand;

Ein Sturmwind treibt dein Gewand

Und dein Haupthaar, wie Wolken, zurücke.

Königreiche fallen, wenn dein Scepter winkt

Und das Felsenhaus des Tyrannen sinkt.

Unter deinem Wagen winken Wiegen,

Wo mit morgenröthlichen Zügen

Künftige Geschlechter liegen.

Aber auch der Berg des Todes ragt

Hoch empor – wo mit verwilderter Geberde

Auf losgeschaufelter Erde

Die Verwesung – ach! an Menschenknochen nagt.

Oft ersäuft der Nachwelt bessere Geschlechter

Der Zeiten aufgeschwollner Fluß –

Und es heulen deine Töchter,

Grauer Archipelagus.

Dorten an der Felsenwand

Ringt ein Greis die welke Hand

Auf dem nahen Grabe.

Röchelnd seufzt er auf: Ich habe,

Chronos, deinen Werth verkannt –[195]

Und der goldnen Stunde Gabe

Ach! – entsetzlich angewandt.

Und ein Mädchen, ausgeweint und hager,

Wälzt um Mitternacht sich auf ihrem Lager,

Jammernd, daß ein Bösewicht sie betrog

Und ihr Schutzgeist Unschuld ewig ihr entflog.

Der Weise, der in stiller Nacht

Vom Mond bescheint am Gitter wacht,

Hört, Chronos, deinen Wagen rollen –

Dann zählt er jeden Augenblick

Und kehrt mit feuervollem Blick

Zur Tugend und zur Pflicht zurück.

Und du – du lispelst ihm den himmelvollen,

Den großen Trost ins Ohr:

Heil dem, der keinen Tag verlor.


»Mit diesen Empfindungen kündige ich meinen Lesern unter dem bescheidnen Titel einer Chronik ein neues Wochenblatt an, welches nach der Zeitfolge die wichtigsten politischen und literarischen Begebenheiten enthalten soll.«

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 195-196.
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