A.
An mein Herz

[108] Kleines Ding mit Müh und Leiden

Hier in dieser Brust gepflegt,

Herz! wenn sich dein Sturm nicht legt,

Herz! wo sind denn deine Freuden?


Deine Schläge! wie so selten

Mischt sich Lust in sie hinein!

Und wie schnell sind sie, mit Pein

Jede Lust mir zu vergelten![108]


Phillis! ach nur Augenblicke

Lacht, was jeden Unmuth stillt,

Lächelt dein geliebtes Bild

Es von ew'gem Gram zurücke.


Ganz verwandelt, neu geboren

Fühl ich dann mich, Göttern gleich:

Und die Welt ein Himmelreich,

Das du dir zum Sitz erkoren.


Ja ein Blick von dir zertheilet

Der Verzweiflung Nacht in mir,

Daß mit Riesenschritt zu dir

Meine Hoffnung siegreich eilet.


Alles sind mir deine Augen

Was der Erde Sonnenschein,

Wo die Trauben ihren Wein,

Die Geschöpfe Leben saugen.


Könnt ich dir zu fühlen geben,

All' die Wohlthat deines Blicks!

Schöpfer meines ganzen Glücks,

Spricht er über Tod und Leben.


Aber Angst und Furcht und Schröcken

Ueberfällt im höchsten Wohl

Mich auf einmal: Phillis! soll

Diesen Blick einst Nacht bedecken?


Sollen diese Zaubermienen,

Wo der Liebe ganze Macht

Mir das Herz hinweg gelacht,

Einst dem trüben Unmuth dienen?[109]


Dieser Busen, der mir Triebe

Banger Lust entgegen schwoll,

Soll er schwinden? Himmel! soll

Ihn kein Wunsch empören, Liebe?


Phillis, soll sogar dein Feuer

Und dein schöner Witz dich fliehn?

Ungetreue – sieh mich knien,

Dennoch bleibst du, bleibst mir theuer.


Fährt dein Herz nur fort zu schlagen,

Für das Herz das dich verehrt,

Dem du diese Glut gelehrt,

Sie bis in sein Grab zu tragen.


Ach ich will dich mit Entzücken,

Wenn dein Herz nur fühlbar ist,

Selbst wenn du es nicht mehr bist,

An des Greisen Schneebrust drücken.


Auf verwelkten Lippen schweben

Unsre Seelen noch vereint,

Wenn das Auge nicht mehr weint,

Soll es doch zu weinen streben.


Zitternd falten wir die Hände

Ineinander, halb vertaubt,

Stützen wir noch Haupt an Haupt,

Und erwarten so das Ende.

Quelle:
Jakob Michael Reinhold Lenz: Gedichte, Berlin 1891, S. 108-110.
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