Kantate zur Einweihung der Katharinenkirche auf Bickern

[510] Riga, den 1. October 1766.


Erster Theil

Choral.


Wem tönt der erste Lobgesang

Im neuen Heiligthume?

In vollen Chören schallet Dank[510]

Zu unsers Gottes Ruhme!

Lobsingt Jehovah's Majestät,

Die sich ein Gotteshaus erhöht

Und will darinnen wohnen!


Recitativ.


Hier, wo vorher ein dürrer Hügel stand,

Um den die Heerde Jesu sich zerstreute,

Hier – Christen schaudert! – hier ist heilig Land!

Jehovah wählt – frohlockt! – auf ewig wählt er heute

Sich hier ein Haus! Hier ist des Herren Tempel,

Den Viele wünschten, hofften und nicht sahn,

Den Sterbende noch in brünstigen letzten Gebeten

Für Kinder und Enkel zum Erbtheil erflehten,

Der ist – Ihr Brüder, betet an! –

Hier ist des Herren Tempel!

Hier, Väter, werden Eure Kindeskinder

Mit Milch des Trosts und Unterrichts genährt.

Hier wird vom Donner des Herrn der rohe Sünder

Erweckt, gerührt, bekehrt,

Und Frevlern zum Exempel,

Der Leiden Jesu werth.

Hier, Arme, wird Gebet, Gebet wird hier erhört,

Die schwache, stumme, zitternde Thrän' erhört,

Den Blöden mehr, mehr als ihr Wunsch gewährt.

Der Matte, Lechzende eilt aus dem Weltgetümmel

Zum Tempel, Gottes Armen zu;

Da findet er den Himmel

Und Trost und Ruh.


Duett.


1.


Greise, Männer, Jünglinge,


2.


Mütter, Töchter, Säuglinge,


1.


Gott Jehovah soll hier thronen!


2.


Jesu Name soll hier wohnen!


1. 2.


Fallet nieder! betet an!


1.


Hier wird das Kind sein erstes Abba lallen,


2.


Hier wird die Mutter weinend niederfallen,


1.


Der fromme Greis mit Himmelsinbrunst beten,


2.


Der böse Sohn mit heil'ger Scham erröthen;


1. 2.


Zu edeln Thaten entschließt der Mann.


1.


Greise, Männer, Jünglinge,


2.


Mütter, Töchter, Säuglinge,


[511] 1.


Gott Jehovah soll hier thronen!


2.


Jesu Name soll hier wohnen!


1. 2.


Fallet nieder! betet an!


Choral.


Im Staube liegen wir vor Dir;

Du wohnst, Herr, unter uns; doch wir,

Wir müssen schamroth flehen:

Geh nicht mit Sündern ins Gericht!

Der Gnade würdig sind wir nicht,

Die wir so oft verschmähen.

Schlechte

Knechte,

Bösewichter

Sind wir! Richter,

Hab Erbarmen!

Laß noch, laß Dein Wort uns Armen!




Zweiter Theil

Chor.


Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist Gottes Haus!

Hier ist die Pforte des Himmels!


Recitativ.


Des Herren Haus! Entweicht, unheil'ge Spötter

Der heiligen Religion, daß Euch ein Wetter

Der Rache nicht zum Abgrund schleudre! Waget

Ihr Euch hier vor den Richter? Klaget

Und pocht nicht Euer Herz? denn wißt,

Daß hier Jehovah's Wohnung ist!

Und die Ihr unrein vor ihn tretet

Und die Religion, die Ihr hier schwöret, schmäht

In niedern Thaten, zittert! Eu'r Gebet

Ist Fluch! ist Gott ein Gräuel! Bebt! Ihr schmäht

Den Tempel, wo Ihr plärrend betet,

Was Ihr nicht wünscht, nicht hofft und nicht versteht.

Zur Mördergrube wird sein Bethaus! Tretet

Zurück und fleht!

Fleht! denn er donnert schon von fern!

Wer? wer ist würdig, zum Altar des Herrn

Mit froher Stirn zu kommen

Und froher wegzugehn? Die Frommen!


[512] Arie.


Schallt, fromme Chöre!

Ihr Frevler, weicht!

In seinen Tempel zeucht

Der König der Ehre!

Furchtbar, prächtig,

Huldreich, mächtig!

Wer kann vor Jehovah stehn?

Der Fromme, der unschuldig wandelt,

Der Christ, der sich im Herren freut,

Der Sünder, der das Laster scheut,

Der Menschenfreund, der redlich handelt,

Der kann zum Tempel Gottes gehn!

Schallt, fromme Chöre!

Ihr Frevler, weicht!

In seinen Tempel zeucht

Der König der Ehre!

Furchtbar, prächtig,

Huldreich, mächtig!

Fromme können zu ihm fliehn!


Choral 1.


Herr, wenn Dein Zorn einst uns und unsre Kinder drückt,

Wenn Alles hilflos ächzt, weil Niemand uns erquickt,

Und hier dann unser Angstgebet

Vor Deinem heil'gen Altar fleht:

Dann, Vater, rett aus Nöthen,

Die hier als Brüder beten!


Solo.


Wo Drei in meinem Namen beten,

Da bin ich mitten unter ihnen

Und will sie retten.


Choral 2.


Wenn unser banges Herz in tausend Aengsten schwimmt

Und reuend seine Flucht zu Dir, Erbarmer, nimmt,

Und wir auf unserm Angesicht

Hier liegen, Herr, dann laß uns nicht!

Komm, tröst uns, Dir zum Ruhme,

In Deinem Heiligthume!


[513] Solo.


Wo Drei in meinem Namen beten,

Da bin ich mitten unter ihnen

Und will sie trösten.


Choral 3.


Wenn unser kindlich Herz voll zarter Dankbarkeit

Für Gnad' und Lieb' und Treu' Dir nichts als Thränen weiht,

So nimm, statt Jubel und Gesang,

Nur einer stillen Thräne Dank

Und gieb, wie Väter pflegen,

Uns Armen neuen Segen!


Solo.


Wo Drei in meinem Namen beten,

Da bin ich mitten unter ihnen

Und will sie segnen.


Schlußchoral.


Sein Tempel und sein Heiligthum

Sind Erd' und Himmel! Seinem Ruhm

Lobsingt das Chor der Seraphim.

Ihr Christen, lebt und sterbet ihm!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 510-514.
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