Danklied

[488] Was bin ich, Gott? was, Herr, bin ich,

Der's wagt, zu Dir zu singen?

Herr, stärke mich! Herr läutre mich,

Mein Herz Dir zuzuschwingen!

Ein Opfer, wie Du's nie verschmäht,

Ein schuldzerknirschtes Angstgebet,

Das noch, Herr, an Dich glaubet!


Wer war ich, da Du riefest mich

Und nanntest mich mit Namen?

Du riefst mich; Herr, ich preise Dich,

Ich, Dein Geschöpf, Dein Samen!

Vor Tausenden von Dir beglückt,

Vor Tausenden hat mich entzückt

Dein Wort, Herr, Deine Lehre!


Ich sah, was, Herr, nicht Tausend sehn;

Was hast Du, Herr, zu fodern?

Ich ging, wo Tausende nicht gehn;

Herr, soll mein Licht verlodern?

Mein Fünklein in der Asch', es fleht,

Es blinkt hinauf und will Gebet,

Und ach, es sinkt danieder!


Ach, Jesus Christus, warst Du gleich

Dem Schwächsten Deiner Brüder

Und gingst aus Deines Vaters Reich

Und sankst zur Erde nieder,

Dem Aermsten, Schwächsten gleich zu sein,

Und fühltest Schwäche, Müde, Pein

Und klagtest gottverlassen


Und gingst hinauf in Vaters Reich,

Den Schwächsten zu erhören!

Der Schwächste soll Dir werden gleich

An Sieg und Lohn und Ehren.

Herr, wo Du flehtest, fleh' auch ich!

Erhörter, ach! erhör auch mich!

Hilf mir zu Deinem Bilde!


Zu Deinem Bild, o Menschensohn

Und Gottes Sohn dort oben![489]

Daß ich, auch ich Dich könn' am Thron

Und schon im Staube loben!

Daß ich, auch ich, schon Dich hier seh',

Schon hier von Deinem Geiste weh',

Weh' in mich Kraft des Lebens!


Und meine Zunge singe Preis,

Und Dank mein Herz Dir schlage,

Und meine Stirn in Todesschweiß

Dich nicht mehr, Herr, verklage,

Dir glänze, Herr, von Deinem Licht,

Und all mein Todtenangesicht

Dein Licht, o Herr, belebe!


Und all mein Todtenleichnam weh',

Weh' auf von Kraft des Lebens,

Und ach! mein blödes Auge seh',

Seh' nimmermehr vergebens

Dein Gotteslicht! Es werde mir

Zur Flamme, die mich, Herr, vor Dir

Durch Tag' und Nächte leite!


Was bin ich, Gott? was, Herr, bin ich,

Dies, Herr, von Dir zu singen?

Herr, stärke mich, Herr, läutre mich,

Mich auf zu Dir zu schwingen,

Daß nicht mein Flehen selbst ein Pfeil

Des Rächers werde, daß es Heil,

Heil in mein Wesen senke!


Vor Tausenden bin ich beglückt,

O Herr, durch all mein Leben;

Vor Tausenden will ich entzückt

Vor Deinem Throne schweben.

Herr! in der Asch' ein Fünklein! sieh,

In Deiner großen Harmonie

Auch ich ein Nachhall! Amen!


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 488-490.
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