Germanien

[195] 1791.


Deutschland, schlummerst Du noch? Siehe, was rings um Dich,

Was Dir selber geschah! Fühl es, ermuntre Dich,

Eh die Schärfe des Siegers

Dir mit Hohne den Scheitel blößt!


Deine Nachbarin sieh, Polen, wie mächtig einst

Und wie stolz! o sie kniet, ehren- und schmuckberaubt,[195]

Mit zerrissenem Busen

Vor drei Mächtigen und verstummt.


Ach, es halfen ihr nicht ihre Magnaten, nicht

Ihre Edeln, es half keiner der Namen ihr,

Die aus tapferer Vorzeit

Ewig glänzen am Sterngezelt.


Und nun wende den Blick! Schau die zerfallenen

Trümmer, welche man sonst Burgen der Freiheit hieß,

Unzerstörbare Nester;

Ein Wurf stürzte die Sichern hin.


Weiter schaue! Du siehst, ferne in Osten steht

Dir ein Riese; Du selbst lehretest ihn, sein Schwert,

Seine Keule zu schwingen;

Zorndorf probte sie auch an Dir.


Schau gen Westen! Es droht, fertig in jedem Kampf,

Vielgewandt und entglüht, trotzend auf Glück und Macht,

Dir ein anderer Kämpfer,

Der Dir schon eine Locke nahm.


Und Du säumetest noch, Dich zu ermannen, Dich

Klug zu einen? Du säumst, kleinlich im Eigennutz,

Statt des polnischen Reichstags,

Dich zu ordnen, ein mächtig Volk?


Soll Dein Name verwehn? Willst Du zertheilet auch

Knien vor Fremden? Und ist keiner der Väter Dir,

Dir Dein eigenes Herz nicht,

Deine Sprache nicht Alles werth?


Sprich, mit welcher, o sprich, welcher begehrtest Du

Sie zu tauschen? Dein Herz, soll es des Galliers,

Des Kosacken, Kalmucken

Pulsschlag fröhnen? Ermuntre Dich!


Wer sich selber nicht schützt, ist er der Freiheit werth?

Der gemaleten, die nur ihm gegönnet ward.[196]

Ach, die Pfeile des Bündels,

Einzeln bricht sie der Knabe leicht.


Höfe schützen Dich nicht; ihre Magnaten fliehn,

Wenn kaum nahet der Feind; Inful und Mitra nicht.

Wirf die lähmende Deutschheit

Weg und sei ein Germanien!


Träum' ich, oder ich seh' welch einen Genius

Niederschweben? Er knüpft, einig verknüpfet er

Zwei germanische Freundes-

Hände, Preußen und Oesterreich.


Quelle:
Johann Gottfried Herder: Werke. Erster Theil. Gedichte, Berlin 1879, S. 195-197.
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