9. Drei Chore der Nymphen

[213] Der erste.


Daß du, Liebe, blind solst sein,

will mir gar nicht gehen ein.

Der dir gläubt, den machst du blind.

So du wenig siehst, o Kind,

desto minder hast du Glauben.

Du wirst mich mir nicht berauben,

du seist blind gleich oder nicht,

und, damit mir nichts geschicht,

sieh, so geh' ich weit von dir.

Du hast satten Platz vor mir.

Also blind auch siehst du mehr,

als wol Argus. Also sehr

hast du blind mich doch gefangen,

blind hast du mich hintergangen.

Itzund, da ich ledig lebe,

wenn ich dir mehr Glauben gäbe,

o, so wär' ich wol geschossen.

Fleuch und treibe deine Possen!

Nimmermehr machst du bei mir,

daß ich mich vertraue dir;

denn du kanst sonst gar nicht scherzen,

du ermordest denn die Herzen.


Der andere.


Aber, blinder Feind der Herzen,

du rufst mich, mit dir zu scherzen.

Sieh, ich scherze: mit der Hand

schlag' ich dich auf dein Gewand,

mit den Füßen rett' ich mich;

laufe! dennoch schlag' ich dich,

und du läufest mit Beschwer,

doch vergeblich, hin und her.

Sieh, ich will dich nicht verlassen,

und du kanst mich doch nicht fassen,

weil ich, o du blinder Knabe,

ein gefreites Herze habe.


[213] Der dritte.


Ein gefreites Herze machet,

daß man flüchtig dich verlachet.

O du loser Schmeichler du,

reizest du mich noch darzu,

daß ich deine falsche Süße

ferner mich bezaubern ließe?

Und doch komm' ich wieder. Siehe,

wie ich jage, schlage, fliehe!

Und du, wenn ich schlag' und lauf',

hältst mich nur vergebens auf,

weil ich, o du blinder Knabe,

ein gefreites Herze habe.


Alle drei.


Seht ihn an, den Sieges-Gott,

dem die Welt steht zu Gebot',

und, im Fall' sie ist verliebt,

gottlos ihm die Renten giebt,

seht ihn itzt verlacht, geschlagen!

Gleichwie, wenn an hellen Tagen

glänzt der güldnen Stralen Schein,

pflegt ein blinder Kauz zu sein,

welchen tausent Vögel nagen

und von vorn' und hinden plagen,

denn, wie sehr er um sich häuet

bald sich groß macht, bald kreucht ein,

doch der Feinde keiner scheuet,

weils vergebne Schläge sein:

so must du dich lassen schänden,

Liebe, hier von allen Enden.

Dieser zwickt dich in den Rücken,

jener, wie es will gelücken,

schlägt dich in die roten Wangen,

ob du gleich die Hände breitest

und mit beiden Flügeln streitest.

Unter einem süßen Schalle

deckt die Leimrut' ihre Galle,[214]

und der Vogel lehrts uns Allen,

der betört ist drein gefallen.

Amor kan von dem nicht bleiben,

welcher mit ihm Scherz will treiben.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 213-215.
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