11. Über ein Kleines

[27] Herr, es ist lange satt, daß ich dich nicht gesehen.

Was mir für Kümmernüß darüber ist geschehen,

wie Angst mir itzt noch ist, das weiß nur ich und du,

wir beide wissens nur. Ach, mein Herr, siehe zu,

daß mir dein Absein nicht die halbverzehrte Seele,

die so nach dir verlangt, bis auf das Sterben quäle!

Erzeige dich, mein Arzt! Der wenigste Verzug

versäumt den Kranken oft; ist sie schon auf den Flug

die Seele, so ists aus. Wie ist doch dieses Kleine

wie ach! wie groß bei ihr! sie sieht nach dir, die deine,

läßt keinen Blick vorbei, schickt Sinn und Geist nach dir.

Itzt fleugt sie selbst dir nach. Ach was verbleibt nur mir?

Ich bin nun nicht mehr ich. Kömt sie nicht balde wieder

und bringt dich, ihren Freund und meinen Trost, hernieder,

wie? wo? was werd' ich sein? der ich schon itzt vorhin

ein lebendiger Tod und totes Leben bin.


Quelle:
Paul Fleming: Deutsche Gedichte, Band 1 und 2, Stuttgart 1865, S. 27-28.
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