Magdalene geht zum Grabe

[441] Die bange Nacht ist hingegangen,

Doch kennt noch nicht ein Mensch den andern,

Noch kann ich mit den Tränen prangen,

Und zu des Meisters Grab still wandern;

Der Tempelwächter ruft die Stunden,

Maria ringt in stummen Schmerzen,

Sie zählte ihres Kindes Wunden,

Ein Schwert drang schneidend ihr zum Herzen.


Laß los von der Welt,

Von dem bunten Zelt,

Von der Truggestalt,

Jesus kommt bald!

Freundlich wird er grüßen,

Sink zu seinen Füßen,

Suche, fange, halt ihn dir,[441]

Seufze, sage, klage hier;

Bleib, o Jesu, bleib bei mir!


Die Spezerei, die wir bereitet

Von Myrrhen, Aloe und Narden,

Trägt Salome, die mich begleitet,

Und Jacobe zum Grabesgarten.

Schon fängt's im Osten an zu tagen,

Ich streck' die Hände aus zum Felsen,

Johanna fragt mit bangem Zagen:

Wer wird vom Grab den Stein uns wälzen?


So wandle ich im Morgengrauen

Zum Grab, wo meine Liebe ruht;

Ich will mit Tränen ihn betauen,

Er gab mir all sein Herzensblut.

Um mir den Stein vom Herz zu heben,

Ging in den Tod all meine Wonne;

Da zuckt ein Blitz, die Felsen beben,

Und aus dem Grab schwingt sich die Sonne.


Die Wachen rings erstarret liegen,

Und von dem abgewälzten Steine

Grüßt uns, die sich zum Grabe biegen,

Ein Engel, weiß im Himmelsscheine:

Erschrecket nicht! Er ist erstanden,

Er ist nicht hier. Kommt her und schauet

An leerem Ort die Todesbanden,

Es ist sein Tempel neu erbauet.


Weil ich den Leib entführet glaubte,

Eilt' nochmals ich das Grab zu grüßen;

Ein Engel saß dem Grab zu Haupte,

Ein Engel saß dem Grab zu Füßen.

Was weinst du Weib? zu mir sie sagen.

Ich sprach: Weil sie ihn weggenommen,

Und ich nicht weiß, wohin getragen.

O sagt: wo ist er hingekommen?[442]

Dann blickt' ich um, und sah im Schimmer

Den Gärtner, glaubt' ich, hört' ihn fragen:

Was weinst du, Weib, wen suchst du immer?

Ich sprach: Hast du ihn weggetragen?

O sag: wohin? daß ich ihn finde!

Da hört' ich mich Maria grüßen,

Und rief: Rabuni! und geschwinde

Sank meinem Jesus ich zu Füßen.


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 441-443.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Droste-Hülshoff, Annette von

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Gedichte (Die Ausgabe von 1844)

Nach einem schmalen Band, den die Droste 1838 mit mäßigem Erfolg herausgab, erscheint 1844 bei Cotta ihre zweite und weit bedeutendere Lyrikausgabe. Die Ausgabe enthält ihre Heidebilder mit dem berühmten »Knaben im Moor«, die Balladen, darunter »Die Vergeltung« und neben vielen anderen die Gedichte »Am Turme« und »Das Spiegelbild«. Von dem Honorar für diese Ausgabe erwarb die Autorin ein idyllisches Weinbergshaus in Meersburg am Bodensee, wo sie vier Jahre später verstarb.

220 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon