29. August 1818

[438] »Ach wär' ich doch der Welt schon los!«

»Was haben Sie denn nun schon wieder?«

»Ich sage, wird die Last zu groß,

So seufzt der Träger und es zieht ihn nieder.


Was ich heut sah, fällt mir da ein,

Kaum konnte ich des Weinens mich erwehren,

Am Markte saß auf einem Stein

Ein altes bleiches Weib in bittern Zähren.


Sie hatte bei den Bauren sich

Ein bißchen Grüns und Rüben beigeschnurret

Es sah kein Mensch sie an, als ich

Sie weinte still vor sich, hat nicht gemurret.«


»Warum gabst du nicht alles Ihr,

Gott giebt's mir wieder, gern bin ich dein Leiher,«

»Ich hatte selbst nicht viel bei mir,

Ich gab ihr, was ich hatte hin, sechs Dreier.


Als ich am Knoten zerren mußt'

In den das Geld im Schnupftuch war geschlungen,

Ist ihr so recht aus tiefer Brust

Ein schwergefühltes Klagewort gedrungen.


In ihren Schoß sprach sie gar schwer,

Wo sie die Armut deckt mit welken Händen,

›Ach wer doch erst da drunten wär',

Hier wird doch nimmermehr die Sorge enden!‹[438]

Ich dacht', das konnt' ich wohl verstehn,

Das brauchtest du mir gar nicht erst zu sagen,

Ich hab' es dir gleich angesehn,

Und wollte dich darum auch gar nicht fragen.


Warum denn fragst du mich, lieb Kind!

›Was haben Sie denn nun schon wieder?‹

Wird denn an mir dein Scharfblick blind?

Mich zieht es wie die Arme auch ja nieder.


Auch ich sitz' alt und bleich am Stein,

Hab' mir ein bißchen Grüns von dir erschnurret,

Mein Weinen siehst auch du allein,

Auch ich hab' nur geseufzt und nicht gemurret.


Auch mir reichst aus dem Schnupftuch du

Den Schatz, sechs Dreier, gestern, heute, morgen

Auch ich möcht' bald hinab zur Ruh'

Denn hier wird doch kein Ende je der Sorgen.


Ich sorg', es nahe eine Zeit

Wo du den Knoten allzu fest wirst schlingen,

Da tun dir dann die Finger leid,

Die milde Gabe mir herauszuzwingen.


Ich sorg', es steigt ein Tag empor,

Ich mein' er guckt schon aus dem Keller drüben,

Da wirfst du mir die Dreier vor,

Und gönnst mir nicht das bißchen Grüns und Rüben.


Ich sorg', es kömmt die Stunde bald,

Wo meines Wegs zu gehn du dich wirst schämen,

Nicht lang mehr tust du dir Gewalt,

Drum wünsch' ich, Gott mög' mich hinunternehmen.


Hab Dank, hab Dank viel tausendmal

Für Dreier, Rüben und die grünen Gaben,

Man soll mit mein und deiner Qual

Man soll mit meiner Liebe sie begraben.[439]

Nur eines flehe ich von dir,

Gehst du mit andern längs dem leeren Steine,

Ach dann, erzähle nicht von mir,

Schweig, denk, wein', bet' für mich alleine.«


Quelle:
Clemens Brentano: Werke. Band 1, München [1963–1968], S. 438-440.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Ausgewählte Gedichte
Märchen / Ausgewählte Gedichte (Fischer Klassik)

Buchempfehlung

Raabe, Wilhelm

Die Akten des Vogelsangs

Die Akten des Vogelsangs

Karls gealterte Jugendfreundin Helene, die zwischenzeitlich steinreich verwitwet ist, schreibt ihm vom Tod des gemeinsamen Jugendfreundes Velten. Sie treffen sich und erinnern sich - auf auf Veltens Sterbebett sitzend - lange vergangener Tage.

150 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon